Arvo Pärt (Foto: Arvo Pärt Centre)
Interview

Wanderjahre

Das aktuelle Programm von Literatur & Musik verspricht eine Wallfahrt der besonderen Art, auf der Arvo Pärts meditative Klänge mit der Prosa von Winfried Georg Sebald einhergehen.

Interview: Tiziana Gohl

Literaturwissenschaftlerin Barbara Naumann wird in die Veranstaltung einführen. Wir haben vorab mit ihr gesprochen.

Barbara Naumann, dem aktuellen Programm zur Reihe «Literatur und Musik» ist der Gegensatz von Alt und Neu eingeschrieben. Das Alte findet sich im Neuen wieder – auch in den Texten des deutschen Schriftstellers und Wahlengländers W.G. Sebald (1944–2001)?

Das Alte im Neuen ist ganz sinnfällig, blickt man auf Arvo Pärt. Pärt ist sozusagen ein religiös motivierter Komponist, der sein Werk als «Schöpfungsandacht» im weitesten Sinne versteht. Bei Sebald ist das ganz anders. Bei ihm spielt das Alte im Neuen zwar auch eine ganz grosse Rolle, aber gerade dadurch, dass Sebald in seinen Texten eine Art Schichtenmodell kreiert.
Er schreibt häufig über Wanderungen und Begegnungen mit Menschen. Daran entzünden sich Geschichten, die dann in die Tiefenschichten dessen gehen, was sich an diesem Ort vollzogen hat oder mit einer Person geschehen ist.
Das sind nicht einfach nur historische Sedimente, sondern immer auch Effekte von grossen Katastrophen. Er spricht von der Naturzerstörung, aber vor allem auch vom Holocaust. Deswegen begegnet Sebald auch häufig versprengten Menschen, die traumatisierende Ereignisse erlebt haben.
Es sind also Brüche in den Schicksalen, für die er sich interessiert und die er im Umweg über diese Wanderungen und Begegnungen rekonstruiert. Das ist das Bauprinzip seiner Texte, so kommt das Alte ins Neue: als versprengte und entstellte Fragmente einer «katastrophischen» Vorgeschichte.

Sie haben es bereits angedeutet, das Stichwort «Spiritualität» fällt oft im Zusammenhang mit Arvo Pärts Musik. Wie steht es mit der Spiritualität in «Eine englische Wallfahrt» von Sebald?

Diese «englische Wallfahrt», das ist kein «richtiger» Roman – vielmehr eine Sammlung von Erzählungen, Wanderberichten, die zum Teil auch ineinander verschachtelt sind, gegenseitig aufeinander Bezug nehmen. Das Vernetzungsprinzip dieser Texte ist ein bisschen anders als jenes eines «konventionellen» Romans. Und so ist es auch mit dem Titel. Wallfahrten unternimmt man als Gläubige*r an einen heiligen Ort, das ist die klassische Bedeutung. Und wo Arvo Pärt sozusagen eins zu eins seinen Glauben versucht in Tonsprache umzusetzen, da scheint mir Sebald mit dem Begriff der Wallfahrt zu spielen.

Und löst somit den Begriff aus einem rein klerikalen Kontext?

Die Orte, zu denen Sebald «wallfahrt», müssen keine im christlichen Glaubenssinne vordefinierten Orte sein. Sie werden deswegen zu Wallfahrtszielen, weil in ihnen ebendiese Historie, das Verschüttete, der Kern des Traumas versteckt sind. Sebald übersetzt den Begriff der Wallfahrt in einen innerweltlichen Zusammenhang und belässt ihn nicht in einem theologischen Bereich. Und es ist auch nicht immer nur Spiritualität. Manchmal ist es auch die Macht des Zufalls, also der schicksalhaften Begegnungen, aber auch die Macht der Zerstörungskraft, über die er sich wundert. Insofern würde ich sagen, dass sich Sebald durch solche Grenzgebiete zur Spiritualität vortastet, ohne selber wirklich zu einem metaphysisch denkenden Autor zu werden.

Die Schlichtheit ist in Pärts Kompositionen Programm …

… er hat sozusagen das Ideologische an der modernen Tonsprache – dass man nicht mehr harmonisch komponieren, nicht mehr einfach nur «Klangschönheit» verfolgen darf – ad acta gelegt und sich vollkommen geöffnet gegenüber Formen, die man eigentlich vor der Moderne Schönbergs ansiedeln würde. In diesem Sinne ist er wirklich postmodern.

Wie ist es bei Sebald?

Manche Leute glauben, Sebald sei das auch, weil er so einen gepflegten Sprachstil schreibt, der manche an die Prosa des 19. Jahrhunderts erinnert. Es ist keine experimentelle Prosa der Moderne. Und deswegen denken wieder manche, er sei ein «altertümlich» schreibender Autor, so wie eben Pärt bisweilen für einen «altertümlich» schreibenden Komponisten gehalten wird, aber beides scheint mir nicht so ganz zuzutreffen.

Schreibt Sebald «musikalische» Prosa?

Es gibt ja Autoren – und zu denen, würde ich sagen, zählt Sebald nicht –, die vordergründig mit einer Art Sprachmusikalität arbeiten oder Musik explizit behandeln. Sebald beschäftigt sich thematisch mehr mit den visuellen Künsten als mit den akustischen. In allen seinen Büchern gibt es Fotografien und Abbildungen, die in der Erzählung eine grosse Rolle spielen. Zum Teil stiften sie auch eher Verwirrung, weil sie nicht das abbilden, wovon gerade die Rede ist. Dieser «Dissonanz» zwischen Bild und Text entspringt dann eine weitere Bedeutungsebene des Textes.

Die Konstruktion der Texte scheint bei Sebald entscheidend zu sein. Lässt sich hierüber ein Bezug zur Musik herstellen?

Fokussiert man weniger auf die «Musikalität» der Sprache, sondern die «Komposition» der Texte, erkennt man auch eine gewisse Rhythmisierung von Themen. Das können Erfahrungen der Erzählerstimme sein oder der Protagonisten, mit denen er sich unterhält. Es ergibt sich ein dicht komponiertes Konstrukt mit «Untertönen». Das historische Material, das er freilegt, «tönt» – wenn man so will – an der Oberfläche der Erzählung immer mit. Insofern ergibt sich eine Konstruktion, die ich nicht einfach musikalisch nennen würde, aber die mit der Funktionsweise von Rhythmik und Harmonik in der Musik in einem übertragenen Sinne etwas zu tun haben könnte.

Barbara Naumann ist emeritierte Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich.

veröffentlicht: 16.04.2021