Es tönt nach Adrenalin: Die Kandidat*innen für ein Violinen-Probespiel wärmen sich in der Grossen Tonhalle auf. (Foto: Matthias Lehmann)
Reportage: Probespiel

Hier werden Schicksale entschieden

Sie sind geheim, umstritten, hochkomplex: die Probespiele, bei denen neue Orchester-Mitglieder gewählt werden. Oder, in diesem Fall: Horn-Zuzüger*innen.

Susanne Kübler

Dienstag, 9 Uhr, irgendwann im Frühsommer. Es tönt nach Horn und Adrenalin in der Grossen Tonhalle. Verteilt im Parkett sitzen und stehen 18 Hornist*innen und spielen sich ein, als ob sie allein wären. Sie alle hoffen darauf, ein paar Stunden später auf der Liste der Zuzüger*innen des Tonhalle-Orchesters Zürich zu stehen. Also zu jenen zu gehören, die man anruft, wenn ein fest angestellter Hornist ausfällt – oder wenn etwa für eine Mahler-Sinfonie mehr Hörner gefragt sind, als es in der Stammbesetzung gibt.

«Guten Morgen» heisst es nun, vorne im Saal begrüssen die Verantwortlichen dieses Probespiels die Kandidat*innen. Anjali Susanne Fischer, die für das HR Orchester zuständig ist und das Ganze organisiert hat, erklärt den Ablauf. Auch die Orchester-Hornisten sind da, die zusammen mit einer Musikerin des Orchestervorstands als Probespiel- Kommission im Einsatz sind. Dazu kommen noch zwei Orchestertechniker, die einige Tausend Schritte und vielleicht ein paar psychologische Herausforderungen vor sich haben: Sie begleiten die Kandidat*innen vom grossen Saal in die Einspielzimmer und von dort in den Vereinssaal, wo die Probespiele stattfinden.

Wobei der Begriff «Probespiel» eigentlich viel zu sachlich ist für das, was hier stattfindet. Probespiele sind die geheimsten, umstrittensten, komplexesten Anlässe im ganzen Orchesterbetrieb. Hier werden existenzielle Weichen gestellt, hier wird die Zukunft des Orchesters entschieden.

Der Druck ist entsprechend gross – für die Kandidat*innen, für die es um alles geht: um die berufliche Perspektive, die finanzielle Sicherheit, auch um den Lebensort. Denn wer einmal eine feste Orchesterstelle hat, behält sie oft bis zur Pensionierung. Spätere Wechsel kommen vor, aber sie sind selten.

Auch für jene, die sie bewerten, sind Probespiele nicht leicht: Denn sie erinnern sich noch genau daran, wie sich so etwas anfühlt; sie haben es schliesslich selbst erlebt, ein Mal, zwei Mal, viele Male. Und sie wissen, was ihr Urteil bedeutet: «Wir nehmen das Ganze wirklich sehr ernst; es ist nicht einfach, wenn man das Leben von jemandem verändern kann oder eben auch nicht», sagt die Geigerin Isabel Neligan. Dazu kommt die Verantwortung für das Orchester: «Jede Wahl hat Konsequenzen, verändert die menschliche und musikalische Balance. Und wenn man nur schon drei, vier Neue mit ähnlicher Ausrichtung wählt, kann das die Entwicklung des ganzen Klangkörpers langfristig beeinflussen.»

Die Nummern

Zurück zu den Horn-Kandidat*innen. Für sie geht es noch nicht um eine Lebensstelle, aber doch um viel: um einen Einstieg in die Orchesterwelt, um einen ersten Schritt, dem im besten Fall weitere folgen können. Sie haben inzwischen Lose gezogen, aus Namen wurden Nummern; Probespiele sind strikt anonym. Die Nummern 1 bis 3 werden dann in die Einspielzimmer gebracht. Aus dem einen hört man in den folgenden Minuten Tonleitern, aus dem zweiten immer wieder dieselbe heikle Stelle aus dem verlangten Stück, Strauss' «Till Eulenspiegels lustige Streiche». Und aus dem dritten – nichts.

So sei das immer, sagt der Orchestertechniker Martin Kozel, «jeder und jede geht anders mit der Stress-Situation um». Für ihn und seinen Kollegen hat nun der Langstrecken-Parcours begonnen. Sie werden die Nummer 1 zum Vorspiel in den Vereinssaal bringen und gleichzeitig die Nummer 4 aus der Grossen Tonhalle in das erste Einspielzimmer. Wenn möglich so, dass weder die Kandidat*innen noch die Kommission warten muss: Jede Unebenheit im Ablauf vergrössert den Druck; das spürt man, wenn man vor der Tür des Vereinssaals sitzt.

Weil das Probespiel anonym sein soll, verwandeln sich die Kandidat*innen nach der Begrüssung in Nummern. Mit Kartonkärtchen wird ausgelost, in welcher Reihenfolge sie antreten werden. (Foto: Matthias Lehmann)

Wie hypnotisiert steigen die Kandidat*innen aus dem Lift (Treppensteigen empfiehlt sich nicht, sonst ist man schon vor dem Auftritt aus der Puste); die meisten nicken nur knapp, wenn Anjali Susanne Fischer noch einmal überprüft, ob die richtige Nummer hergebracht wurde. Auch im Saal drin antworten die wenigsten auf die Begrüssung, hört man von der Kommission. Fragt man im Orchester nach, ob etwas dran sei an dem Gerücht, dass viele vor einem Probespiel Betablocker schlucken, erhält man vage Antworten: Niemand hat eigene Erfahrungen, niemand fände es gut oder sinnvoll. Aber dass es vorkommt – doch, das können sich alle vorstellen.

Braucht es diesen Druck? Darüber wird in der Orchesterwelt seit längerem heftig diskutiert. Nein, finden die einen: Was bei Probespielen verlangt werde, habe mit dem Orchester-Alltag rein gar nichts zu tun. Denn ein perfektes Solo verrät noch nicht, ob sich jemand in einen Gesamtklang einfügen kann und menschlich ins Ensemble passt. Oder, im Fall von Solo-Stellen: ob die Person jene Führungsqualitäten hat, die man auf einer solchen Position eben auch braucht.

Doch, entgegnen die anderen: Sowohl die Bläser*innen als auch die Stimmführer*innen in den Streicher-Registern müssten in Konzerten oft exponierte Soli liefern; das sei mit dem Probespiel-Stress durchaus vergleichbar. Bei Tutti-Stellen ist die Situation etwas anders, da sind sich alle einig. Aber wie könnte man hier ein Auswahlverfahren realitätsnaher gestalten? Bisher sind noch nirgendwo zündende Ideen aufgetaucht.

Sicher ist: Es werden manchmal falsche Entscheidungen getroffen. Deshalb gibt es nach einem gewonnenen Probespiel ein Probejahr, in dem getestet wird, ob der oder die Neue tatsächlich ins Orchester passt. Manchmal wähle das Orchester nach diesem Jahr jemanden ab, den es nach dem Probespiel unbedingt gewollt hätte, sagt Paavo Järvi: «Das ist normal.» Umgekehrt dagegen gibt es keine Korrektur. Wer das Probespiel nicht besteht, bleibt draussen, selbst wenn er oder sie vielleicht die perfekte Wahl gewesen wäre.

Der Vorhang

Beim Horn-Probespiel sind nun schon die ersten Nummern durch. Der aktuelle Kandidat spielt fehlerfrei, vielleicht etwas verhalten – soweit man das vor der Tür beurteilen kann. Ausser der Orchester- Kommission darf niemand in den Saal, selbst die Intendantin Ilona Schmiel hat einst vergeblich um eine Ausnahme gebeten. Je nach Bedeutung der Stelle ist diese Orchester-Jury grösser oder kleiner: Geht es um eine Solostelle, sitzen auch mal fünfzig Leute drin. Das sei wohl der grösste Unterschied zu Assessments in anderen Sparten, sagt der Solo-Cellist Rafael Rosenfeld: «Sich vor einer so grossen Gruppe zu exponieren, ist nicht einfach.»

Bei den potenziellen Horn-Zuzüger*innen ist die Gruppe klein, und noch etwas ist anders als sonst: Es hängt ausnahmsweise kein Vorhang im Saal. Dieser Vorhang sorgt normalerweise in der ersten Runde dafür, dass der Start tatsächlich vollständig anonym bleibt. Ob eine Frau spielt oder ein Mann, ob man die Person kennt oder nicht, ob sich da eine Tutti-Kollegin um die Stimmführer- Stelle bewirbt oder ein Jungtalent aus Südkorea – man sieht es nicht, und es lässt sich auch nicht erraten.

Für den Solo-Cellisten Paul Handschke war das ganz angenehm. Er hat gleich drei Probespiele beim Tonhalle-Orchester Zürich erfolgreich absolviert: Erst als Praktikant, dann als Tutti-Cellist und schliesslich für die Solostelle. «Vor allem beim letzten Vorspiel war ich froh um den Vorhang. Wenn man da in diesem engen Vereinssaal direkt vor allen Kolleginnen und Kollegen sitzt, mit Paavo in der ersten Reihe – das ist schon tough.» Paavo Järvi seinerseits freut sich, wenn der Vorhang in der zweiten Runde verschwindet: «Musizieren ist eine physische Angelegenheit, es geht nicht nur um Töne, sondern auch um die Präsenz auf der Bühne.»

Dieser Vorhang sorgt in der ersten Runde dafür, dass der Start tatsächlich vollständig anonym bleibt. (Foto: Matthias Lehmann)

Ein bisschen etwas von dieser Präsenz bekommt man allerdings auch ohne Optik mit: Das zeigt sich beim Zuhören vor der Tür. Mittlerweile haben die 18 Hornist*innen ihre erste Runde hinter sich, und die Unterschiede sind frappant. Man hörte draufgängerische und zurückhaltende Interpretationen; und während die einen sofort einen Dialog mit dem Pianisten Hendrik Heilmann aufnahmen, schienen die anderen ganz für sich zu spielen, in der Hoffnung, er werde sich dann schon anpassen.

Der Pianist

Die Hoffnung ist berechtigt, Hendrik Heilmann ist ein überaus flexibler Pianist, und er ist sich seiner Verantwortung bewusst: «Ich bereite mich jeweils sehr gut auf Probespiele vor und übe wirklich viel, auch wenn ich das Repertoire schon kenne – damit meine Aufmerksamkeit dann ganz bei den Kandidatinnen und Kandidaten ist.» Sie spielen alle unterschiedlich, sind unterschiedlich aufgeregt: «Man merkt schon, wenn sie hereinkommen, in welchem Zustand sie sich befinden.»

Er gibt jeweils den Ton an, damit sie stimmen können, und dann geht’s los. Absprachen oder Proben davor gibt es nicht, «es hätte auch keinen Sinn, ich könnte mir ja nicht die Nuancen von dreissig Interpretationen merken». So kommt es wirklich auf den Moment an – und für Hendrik Heilmann auch auf die Kondition. Dass er bei Kandidatin 28 noch gleich gut spielt wie bei Kandidat 1, «das ist schon eine Herausforderung, nicht nur musikalisch, sondern auch sportlich ».

Die Kriterien

Pause. Die Nachwuchs-Hornist*innen warten in der Grossen Tonhalle auf das Resultat, während sich die Kommission berät. Die Diskussionen sind kurz diesmal, Anjali Susanne Fischer vom Orchesterbüro kommt bald und einigermassen nachdenklich wieder aus dem Vereinssaal: Nur zwei der 18 Kandidat*innen werden für die zweite Runde eingeladen, «ich hoffe, dass wir am Ende wenigstens jemanden haben». Selbstverständlich ist das nicht; gerade wichtige Stellen müssen oft mehrfach ausgeschrieben werden. Bis ein neuer Tuba-Spieler eingestellt wurde, brauchte es drei Probespiele; auch eine neue Solo-Klarinette fand man erst nach mehreren Anläufen.

Denn die Kriterien sind streng, zu Recht. Gleichzeitig sind sie kaum zu definieren: «Sobald ein gewisses Niveau da ist, sind die Urteile extrem subjektiv», sagt Rafael Rosenfeld. Einig sind sich alle befragten Orchester-Mitglieder nur in einem: Ums Fehlerzählen geht es nicht. «Wenn jemand Farben, eine schöne Linie und etwas auszudrücken hat – dann bin ich immer für ein Weiterkommen in die nächste Runde, auch wenn mal etwas schief geht», sagt Isabel Neligan. Paul Handschke hat einst davon profitiert: «Ich weiss genau, dass ich bei meinem Solo-Probespiel nicht alle Töne getroffen habe, aber offenbar habe ich die Jury trotzdem überzeugt.» Er selbst schaut nicht zuletzt darauf, ob jemand Spass hat beim Spielen: «Man merkt genau, ob jemand dran denkt, dass das erste Fis nicht zu tief sein darf – oder tatsächlich musiziert.» Rafael Rosenfeld stimmt zu: «Jene, die auf Sicherheit spielen, kommen vielleicht noch in die zweite Runde. Aber dann wird man sagen, ja, das war schon gut, aber es interessiert uns eigentlich nicht.»

Aber was ist gut und interessant, wer passt ins Ensemble, mit wem will man zusammenspielen? Manchmal sind sich alle einig; für Paavo Järvi ist das «die beste Option, dann kann man sicher sein, dass man sich für die richtige Person entschieden hat». Häufiger aber gehen die Meinungen weit auseinander; dann wird diskutiert, «manchmal knallt es auch», erzählt Rafael Rosenfeld: «Es ist oft ein schmerzhafter Prozess, viele Leute werden extrem leidenschaftlich – es geht ja auch um viel.»

Hinter dem Vorhang wird gespielt, vor dem Vorhang abgestimmt. Immer dabei: Hendrik Heilmann am Klavier. (Foto: Matthias Lehmann)

Am Ende braucht es eine 2/3-Mehrheit in der Stimmgruppe, eine 2/3-Mehrheit im Orchester – und die Zustimmung von Paavo Järvi. Er hat das Veto-Recht und kann eine Einstellung selbst dann verhindern, wenn das ganze Orchester sich einig ist. Er berufe sich ungern auf dieses Recht, sagt er, «aber manchmal ist es nötig». Er will Leute, die «das Boot rocken»; hat er den Eindruck, ein Entscheid wäre allzu sehr auf ein angenehmes Zusammenspiel ausgerichtet, widersetzt er sich. Seine Macht hat aber dennoch Grenzen: Ohne die Mehrheit des Orchesters kann er niemanden durchsetzen. Im Orchester ist man froh darüber, denn ein Chefdirigent ist irgendwann weg, aber die gewählte Person bleibt.

Das Feedback

Und die Kandidat*innen? Was bekommen sie mit von all dem? Das Reglement ist klar: Was in der Kommission diskutiert wird, bleibt im Raum; dass manchmal trotzdem etwas durchsickert, ist zwar menschlich, aber nicht ideal. Wenn jemand weiss, wer für oder gegen ihn war, ist das für alle problematisch.

Direktes Feedback gibt es aber durchaus. «In der Regel gehen nach der ersten Runde die Leute aus der Stimmgruppe hin und reden mit jenen, die das wünschen», sagt Paul Handschke. Manchmal kommen auch später noch Anfragen, über Facebook zum Beispiel. Er formuliere aber vorsichtig: «Wenn ich zu jemandem sage, dein Haydn ist einfach zu wenig energetisch, dann geht der unter Umständen zum nächsten Probespiel und gibt Vollgas.» Was das bedeutet, weiss Rafael Rosenfeld auch als Lehrer: «Man muss solche Probespiele mit Studierenden immer nachbereiten. Ich ermuntere sie, Feedback einzuholen – aber das muss man einordnen und relativieren.»

Und dann geht es darum, die Wunden zu lecken: Manche Musiker*innen schaffen die Hürde gleich beim ersten Mal, andere reisen jahrelang von einem Probespiel zum nächsten; der Preis dafür ist psychisch und finanziell hoch.

Die Entscheidung

Inzwischen ist die Pause vorbei, die beiden verbliebenen Hornisten werden nacheinander für die zweite Runde in den Vereinssaal gebracht, nun geht es um Strauss' «Heldenleben» – eine der schwierigsten Hornstellen überhaupt. Die Diskussion ist auch diesmal kurz: Keiner der beiden schafft es auf die Zuzüger*innen- Liste. Fehlt ein Horn, wird man Musiker*innen von anderen Orchestern «ausleihen», bis das nächste Probespiel stattfindet. Auf der To-Do-Liste von Anjali Susanne Fischer steht nun nur noch ein Punkt: «Biografien und Noten mit Notizen schreddern.» Damit das Geheime auch wirklich geheim bleibt.

Anmerkung

Pro Jahr finden beim Tonhalle-Orchester Zürich mal ein Dutzend, mal deutlich mehr Probespiele statt. Bis zu 320 Bewerbungen werden jeweils eingereicht. Die Zahl der Kandidat*innen, die dann eingeladen werden, variiert stark. Hier zeigen wir, um Rückschlüsse auf einzelne Personen zu verhindern, keine Fotos des beschriebenen Horn-Probespiels – sondern solche von einem für Streicher-Praktikant*innen, bei dem auch der Vorhang zum Einsatz kam. Die erfolgreichen Kandidat*innen spielen dieses Jahr in unseren Konzerten.

veröffentlicht: 12.03.2024

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