«I war halt wieder der Beste!»
Beim Namen Gustav Mahler denken wir heute an gigantische Sinfonien. Seinen Zeitgenossen dagegen war er vor allem als grosser Dirigent ein Begriff.
Von 1891 bis 1897 wirkte Mahler als Erster Kapellmeister am Stadttheater Hamburg, von 1897 bis 1907 als Erster Kapellmeister und Direktor an der Hofoper in Wien sowie von 1908 bis zu seinem Tod 1911 als Dirigent an der Metropolitan Opera in New York. Er galt als der grösste Operndirigent seiner Zeit und kann wohl als der erste transkontinentale Dirigentenstar angesehen werden. Wegen seines Perfektionismus und seiner Ungeduld bekam er jedoch mit allen Orchestern, die er öfters dirigierte, irgendwann Schwierigkeiten. Mahler konnte die Musiker*innen derart herunterputzen, dass auch Tränen flossen. Aber das künstlerische Ergebnis seiner Konzerte war exzellent – und das Publikum begeistert.
«Ein Mann von Genie»
Im Rahmen seiner Anstellungen brachte Mahler eine Fülle spannender Werke auf die Bühne. 1892 leitete er zum Beispiel die deutsche Erstaufführung von Tschaikowskys «Eugen Onegin», wobei er kurzfristig für den zu nervösen Komponisten einsprang. Dieser war dankbar und schrieb an seinen Neffen: «Der hiesige Dirigent ist übrigens kein Durchschnitt, sondern ein Mann von Genie, der sein Leben dafür lässt, die erste Aufführung zu dirigieren.»
Im selben Jahr gab Mahler in London Wagners «Ring». Auch hier konnte er grosse Erfolge feiern. Selbstbewusst berichtete er an einen Freund: «I war halt wieder der beste!» Die Reaktion auf die erste Londoner «Fidelio»-Darbietung auf Deutsch kurz danach (die Oper war vorher nur in italienischer Sprache aufgeführt worden) verdeutlicht, woher Mahlers Einstellung kam: «‹Fidelio› ist hier von der Hälfte der Kritik auf das heftigste angegriffen und bekämpft worden. Das Publikum aber hat mir durch einen wahren Beifallsorkan Absolution für meine Blasphemie erteilt. […] Ich muss faktisch nach jedem Akt vor die Rampe – das ganze Haus brüllt so lange ‹Mahler› – bis ich erscheine.»
«Wie eine Elementarkatastrophe»
Sein Ziel war es, Direktor der Wiener Hofoper zu werden. Doch trotz seines Rufs und seiner Fähigkeiten sollte es zunächst nicht klappen: «Mein Judentum verwehrt mir, wie die Sachen jetzt in der Welt stehen, den Eintritt in jedes Hoftheater.» Mahler konvertierte daher zum Katholizismus. Mit seinem Wirken in Wien schrieb er Geschichte: Durch eine Reform veränderte er die Musiktheaterpraxis für immer – und machte die Wiener Oper, allen antisemitischen Anfeindungen zum Trotz, zur damals besten Bühne der Welt.
Mit Unterstützung des Bühnenbildners Alfred Roller nahm Mahler Neuerungen in Angriff, die auf eine Einheit von Inszenierung, Dekoration und musikalischem Vortrag zielten. Zuspätkommende wurden von nun an nicht mehr in den Saal gelassen und der Zuschauerraum verdunkelt. Mahler intensivierte die Probenarbeit und schulte die Sänger*innen, wie Schauspieler*innen zu agieren. Der Cellist des Hofopernorchesters und spätere Komponist Franz Schmidt stellte fest: «Seine Direktion brach über das Operntheater wie eine Elementarkatastrophe herein […]. Was da alt, überlebt oder nicht ganz lebensfähig war, musste abfallen und ging rettungslos unter.» Denn Mahler war der Meinung: «Was ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei.» Auch wenn einige Anhänger*innen des alten Stils der Wiener Bühne deshalb den Rücken kehrten, ging die Idee auf. Mahler entstaubte das Haus, was an dieser Äusserung des Dirigenten Bruno Walter deutlich wird: «Er befreite Mozart von der Lüge der Zierlichkeit, wie von der Langeweile akademischer Trockenheit, gab ihm seinen dramatischen Ernst, seine Wahrhaftigkeit […]. Er verwandelte durch seine Tat den bisher leblosen Respekt des Publikums vor den Mozartschen Opern in eine Begeisterung, die das Haus mit ihren Demonstrationen erschütterte.»
In seiner New Yorker Zeit (in der ihn nun ein wenig die Kräfte verlassen hatten) überzeugte er das Publikum ebenfalls. Nach einer «Tristan»-Aufführung 1909 hiess es in einer Besprechung der Zeitung «Sun», Mahler habe einen vitalen Klangstrom entfesselt, «wie wir ihn vorher noch nie gehört haben».
«Wie eine lodernde Flamme»
Die Kritiken verdeutlichen, dass Mahler offensichtlich als Ausnahmetalent angesehen werden kann. In einem Brief verriet er, was sein Ziel war: «Ich rechne es mir als mein grösstes Verdienst an, dass ich die Musiker dazu zwinge, genau das zu spielen, was in den Noten steht.» Wie gelang ihm das? Wenn wir zeitgenössischen Beobachtungen Glauben schenken dürfen, unterschied sich seine Dirigierweise markant vom statischen und ruhigen Stil seiner Kollegen: Der Wiener Musikkritiker Max Graf beschrieb, dass Mahler «immer in Bewegung, wie eine lodernde Flamme» war – und immer wieder von seinem Dirigentenstuhl aufsprang, als sei er gestochen worden.
Mahler brach mit alten Traditionen. Nach seinem Stellenantritt in Wien hielt der Kritiker und Schriftsteller Ludwig Speidel fest: «Herr Mahler ist eine kleine, schlanke, energische Gestalt mit scharfgeschnittenen intelligenten Gesichtszügen […]. Er gehört der jüngeren Dirigentenschule an, die, im Gegensatz zu der statuarischen Haltung der älteren Kapellmeister, eine lebhaftere Mimik ausgebildet hat. Diese Jüngeren sprechen mit Armen und Händen, mit Wendungen des ganzen Körpers, wenn es sein muss; das dürre Holz des Taktstocks schlägt aus zwischen ihren Fingern und wird grün.»
Besonders eindrucksvoll sind seine Bewegungen in zeitgenössischen Karikaturen dargestellt. Da sieht man einen Mahler, der sich – wohl auch aufgrund seiner Körpergrösse von nur 1,63 m – in die Höhe streckt oder mit wilden Gesten den Taktstock schwingt. Solche Zeitzeugnisse sind allerdings mit Vorsicht zu geniessen: Die Wahrnehmung Mahlers war von antisemitischen Stereotypen geprägt, sodass es sich um judenfeindlich motivierte Projektionen handeln könnte. Mit Antisemitismus hatte Mahler sein Leben lang zu kämpfen. Dennoch legte er eine unglaubliche Dirigentenkarriere hin – mehr noch: Er wurde einer der ersten internationalen Stars am Dirigentenpult.
Sonderheft Mahler-Zyklus
Das Tonhalle-Orchester Zürich spielt unter der Leitung von Paavo Järvi sämtliche Sinfonien von Gustav Mahler auf CD ein. In diesem Zusammenhang ist ein Sonderheft über den Komponisten erschienen – mit Beiträgen über die Rezeption seiner Werke in der Schweiz, über seine Freundschaft mit dem Schweizer William Ritter, über die Frauen in seinem Leben, über die Rollen, die das Dirigieren, die Literatur und das Thema «Erlösung» in seinem Leben und Werk spielten, über die Verwendung seiner Musik in Filmen, über seinen Charakter – und über das, was Paavo Järvi mit Mahlers Musik verbindet. Das Heft ist an der Billettkasse sowie am Konzertabend am CD-Tisch im Foyer für CHF 5 erhältlich.
