Glosse

Der Star unter den Sinfonien

Bei speziellen Ereignissen kommt nur ein Werk in Frage: Beethovens Neunte.

Susanne Kübler

Es ist paradox: Ausgerechnet in den besonders besonderen Momenten neigt der Mensch dazu, auf Bewährtes zurückzugreifen. Landauf, landab verkünden laubgesägelte Störche auf Balkonen die Geburt eines Kindes. Weltweit werden bei der Eröffnung von Tunnels, Hallenbädern und Bankfilialen Bänder gespannt, um wieder durchgeschnitten zu werden (es gibt sogar einen Leitfaden mit genauer Beschreibung, wie das zu tun sei). Und wenn wieder einmal irgendwo ein Konzertsaal eingeweiht wird, gibt es (fast) nur eins: Beethovens Sinfonie Nr. 9.

Offenbar brauchen wir bei grossen Ereignissen Rituale, um die Bedeutung zu betonen. Nur: Wie entstehen solche Rituale? Zumindest im Fall von Beethovens Neunter lässt sich das ziemlich genau nachvollziehen.

Es begann schon ganz am Anfang, bei der Uraufführung am 7. Mai 1824, als das Publikum im Wiener Theater am Kärntnertor die allererste Chorsinfonie der Musikgeschichte bejubelte. Sie sprengte auch mit der Dauer von rund 70 Minuten die bis dahin geltenden Grenzen und sicherte sich damit gleich doppelt das Etikett des Aussergewöhnlichen, das sie nie mehr verlieren sollte. Zwar gibt es andere Sinfonien, die ebenso beliebt, berühmt und bedeutend sind wie diese: Mozarts g-Moll-Sinfonie KV 550 wäre da zu nennen, auch Dvořáks Sinfonie «Aus der Neuen Welt» oder Tschaikowskys «Pathétique»; zudem konkurrenziert sich Beethoven selbst mit seiner Fünften und der «Eroica». Aber an Wendepunkten steht die Neunte unbestritten allein da.

«Seid umzingelt, Millionen»

Es sind bei weitem nicht nur musikalisch relevante Wendepunkte wie eben die Eröffnung eines Konzertsaals. Die Neunte ist dabei, wenn Weltgeschichte geschrieben wird: Richard Wagner dirigierte sie am Vorabend der Dresdner Revolution 1848 (und eröffnete später sein Bayreuther Festspielhaus auf dem Grünen Hügel damit). Stalin hat sie ebenso für seine Propaganda missbraucht wie Hitler, was den Philosophen Theodor W. Adorno zum bitterbösen Kalauer «seid umzingelt, Millionen» inspirierte. Und während die «Ode an die Freude» aus dem Finale in einer Instrumentalversion als Europahymne fungiert, wurde sie bei den Protesten gegen die russische Invasion in der Ukraine gesungen.

Auch an Silvester haben Aufführungen der Neunten Tradition seit jener «Friedensund Freiheitsfeier» im Leipziger Krystallpalast, die das Arbeiter-Bildungsinstitut zum Jahreswechsel 1918/19 veranstaltete. Am 31. Dezember 2024 erklang das Werk unter anderem im Basler Stadtcasino, im Leipziger Gewandhaus, in der Staatsoper Berlin, in der Münchner Isarphilharmonie, im Wiener Konzerthaus, im Volkstheater Rostock, im Konzerthaus Berlin (das zudem eine Live-Übertragung ins Zeiss-Grossplanetarium anbot, wo das besungene «Sternenzelt» zweifellos noch eine ganz andere Wirkung hatte) – und so weiter. Wenn das nächste Silvester bei uns mit diesem Werk gefeiert wird, ist das also nicht originell, aber eine überaus sinnige Umsetzung der Botschaft «alle Menschen werden Brüder»: Zumindest die Konzertbesucher* innen dürfen sich in diesem Moment ziemlich global verbunden fühlen.

So viel Ruhm ruft natürlich auch Spötter auf den Plan. Der bissigste war Kurt Sowinetz, der sich mit seinem «Alle Menschen san ma zwider» 1972 einen Ehrenplatz in der Geschichte des Austro-Pop sicherte. Aber am Glanz des Originals mag das ebenso wenig zu kratzen wie es die ideologisch fragwürdigen Vereinnahmungen taten. Der Götterfunke springt auch 201 Jahre nach der Uraufführung immer noch über. Und falls die Mode doch einmal etwas teilen sollte: Seine Zauber werden es wieder binden.

Dezember 2025
Di 30. Dez
19.30 Uhr

Silvesterkonzert mit Sir John Eliot Gardiner

Tonhalle-Orchester Zürich, Sir John Eliot Gardiner Leitung, Rebecca Hardwick Sopran, Iris Korfker Alt, Peter Davoren Tenor, Alex Ashworth Bass, The Constellation Choir, Bach, Beethoven
Mi 31. Dez
19.00 Uhr

Silvesterkonzert mit Sir John Eliot Gardiner

Tonhalle-Orchester Zürich, Sir John Eliot Gardiner Leitung, Rebecca Hardwick Sopran, Iris Korfker Alt, Peter Davoren Tenor, Alex Ashworth Bass, The Constellation Choir, Bach, Beethoven
veröffentlicht: 08.12.2025

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