Werkkommentare

Hier finden Sie die Werkkommentare, Biografien und die Chorbesetzung zum Konzert mit dem Tonhalle-Orchester Zürich: SONIC MATTER – Carte blanche.

Peter Ruzicka: «FURIOSO» (2019)

für Orchester

Ruzicka erinnerte sich an seinen väterlichen Freund Rolf Liebermann, der 1947 ein «Furioso» komponiert hatte – der Kompositionsauftrag aus Grafenegg war schliesslich die willkommene Gelegenheit, den Gedanken umzusetzen. «Furioso», nach Peter Ruzicka durchaus «self explaining», ist charakterisiert durch rasend schnelle Bewegungen in den Streichern und Pauken, das vorgegebene Tempo bezeichnet der Komponist bewusst als «Grenzfall». Heftige Einwürfe in den Bläsern bereichern die Szenerie und bekommen zunehmend turbulenten, sich überstürzenden Charakter. In einem kürzeren, beruhigten Mittelteil erinnert sich Peter Ruzicka an seine letzte Oper «Benjamin» (der Titel bezieht sich auf den Philosophen Walter Benjamin) und sieht eine breite Fächerung der Einzelstimmen in den Streichern vor. Es folgt schliesslich die Wiederaufnahme des anfänglichen Rasens, diesmal angereichert durch neue musikalische Elemente, die das gesamte Klangbild in ein neues Licht tauchen. In einer ekstatischen Verdichtung des Orchestersatzes, besonders der Streicher, mündet «Furioso» in einen fulminanten Schluss. – Peter Ruzicka

Peter Ruzicka: «DEPART» (2020)

für Viola und Orchester
Uraufführung

«Départ Paul» schrieb Paul Celan am 19. April 1970 in sein Notizbuch, ehe er mit dem Gang in die Seine seinem Leben ein Ende bereitete. Fünfzig Jahre später entstand mit meinem Bratschenkonzert «DEPART» eine Trauermusik zum Gedenken an diesen grossen Dichter, der wie kein anderer die Wunden des 20. Jahrhunderts zu benennen wusste. Ihm hatte ich bereits eine Reihe anderer Werke gewidmet, darunter die Oper «CELAN», die in meinem neuen Stück ein spätes Parergon erfährt. Die Solobratsche führt durch die Musik von «DEPART», die zwischen rauschhaftem Aufbegehren und verstummender musikalischer Gestalt changiert. Meine Empathie für Celan führt nicht selten zu Momenten des Aufbegehrens, des Ausbruchs - dann aber auch der epischen Zurücknahme ins Dunkle, Unbestimmte, in Stille und Auslöschung. «DEPART» wurde in den Monaten der aufkommenden Corona-Pandemie geschrieben. – Peter Ruzicka

George Enescu: «Isis» (1923)

sinfonisches Adagio für Frauenchor und Orchester
(Orchestrierung Pascal Bentoiu)

Enescus rastlose Kreativität und seine vielfältigen Verpflichtungen brachten es mit sich, dass er eine ganze Reihe bedeutender Kompositionen nur skizzierte, ohne sie vollständig auszuführen. Zu diesen Werken zählen die beiden letzten Sinfonien Nr. 4 und Nr. 5 und auch «Isis» – eine «vokalsinfonische Dichtung», wie sie der rumänische Komponist und Musikwissenschaftler Pascal Bentoiu (*1927) sie nannte. Bentoiu, Autor eines Standardwerks über Enescu, war es auch, der alle drei Werke in eine spielbare Fassung brachte. Und die Komposition «Isis» entdeckte er 1996 überhaupt erst in einem Archiv in Bukarest; von ihrer Existenz wusste man zuvor nichts. Dass Enescu von dem 1923 entstandenen Werk nie öffentlich sprach, könnte vielleicht mit seinem allzu privaten Inhalt zu tun haben. Isis war der Kosename, den der Komponist seiner langjährigen Geliebten und späteren Ehefrau (ab 1939) Maruca Cantacuzini gab. Er hatte die unglücklich verheiratete Adelige 1907 kennen gelernt und ihr noch im gleichen Jahr ein «Nocturne à Isis» gewidmet. Von diesem persönlichen Bezug abgesehen, meint Isis die ägyptische Göttin, die ihren ermordeten Gatten Osiris durch Zauberei wieder auferstehen liess. Sie galt als Göttin der Liebe, der Magie und der Toten, in späterer Zeit auch als Mondgöttin oder als das weibliche Prinzip in der Natur.
Enescu konzipierte «Isis» im Juni 1923. Kurz zuvor hatte er die (ebenfalls Maruca gewidmete) Oper «Œdipe» skizziert. Mit einigen Leitmotiven dieses Werks sind die melodischen Ideen des Orchesterstücks eng verwandt. Ähnlich erscheinen auch die harmonischen Strukturen – spannungsvolle chromatische Klänge, die von Wagner ausgehen und bisweilen kaum noch tonal zu deuten sind. Das Werk basiert auf zwei Hauptthemen, die im Grunde nur Facetten ein und derselben Idee darstellen: Beide buchten sich nach einem langen Anfangston bogenförmig aus, das erste Thema nach unten, das zweite, rhythmisch stabilere nach oben. Aus Wechsel, Variation und Zusammenspiel der beiden Themen entwickelt Enescu die ganze Komposition, einschliesslich der Begleitstimmen und Hintergrundklänge. Ein Frauenchor, der nach etwa einem Drittel der Spieldauer (von insgesamt etwa 20 Minuten) hinzutritt, wird als zusätzliche Klangfarbe genutzt; so kann zum Beispiel eine Linie vokal begonnen und instrumental weitergeführt werden. – Volker Tarnow

Peter Ruzicka über «Isis»

In «Isis», jenem ebenfalls nur entworfenen und von Pascal Bentoiu nachinstrumentierten sinfonischen Gedicht für Frauenchor und Orchester aus dem Jahre 1923, sind die Vokalstimmen ähnlich Orchesterinstrumenten in das Klanggeschehen eingewoben. Die Vokalisen erscheinen wie Boten einer Himmelsmusik, die Isis, die ägyptische Zaubergöttin, anruft. Die zarte, überwiegend kammermusikalisch geprägte Partitur ist ein Stück der Farben, ganz so, wie es Olivier Messiaen einmal beschrieben hat: «Die Musik der Farben macht das, was die Glasfenster und Rosetten des Mittelalters tun: Sie beschert uns das Überwältigtsein, sie rührt gleichzeitig an unsere edelsten Sinne: das Gehör und das Gesicht. Sie erschüttert unsere Empfindungsfähigkeit, reizt unsere Einbildungskraft, lässt unsere Einsicht wachsen und bringt uns dahin, dass wir unsere Begriffe hinter uns lassen, um dort anzukommen, wo mehr als nur Vernunft und Intuition sind.»

George Enescu: Sinfonie Nr. 4 in e-Moll (1934)

(Vervollständigung Pascal Bentoiu)

Enescu komponierte nach den vier Jugendsymphonien fünf nummerierte Symphonien und eine Kammersymphonie. Die 4. Symphonie in e-moll ist vollständig skizziert einschliesslich aller Angaben zur Dynamik, Phrasierung und Artikulation. Enescu hat jedoch nur den Kopfsatz orchestriert sowie 45 Takte (ungefähr zweieinhalb Minuten) des Mittelsatzes. Pascal Bentoiu, seinerseits Komponist und Autor des profunden Buches «The Masterworks of George Enescu», instrumentierte 1996 die Sätze zwei und drei. Enescu verwendet vielfach die alten Kirchentonreihen, und zwar die auf der byzantinischen (nicht auf der westlich-gregorianischen) Tradition fussenden Skalen, und kombiniert sie mit den geläufigen Tonarten des Dur-Moll-Systems. Häufig anzutreffen sind bei ihm Intervalle, die – wie Sekunde, Quarte und Septime – von der klassischen Harmonielehre verteufelt, von rumänischen Volksmusiker:innen aber geliebt wurden. Eine für sein Kompositionsverfahren besonders typische Formel ist die sogenannte Zelle X, bestehend aus einem Halbtonschritt und einer kleinen Terz (oder enharmonisch einer grossen Sekunde); Enescu bedient sich ihrer in allen Phasen seines Schaffens, wobei sich die Gestalt – wie bei Zellen üblich – permanent verändert.
Der Kopfsatz «Allegro appassionato» eröffnet im fortissimo mit einer dreiteiligen Motivgruppe: Zuerst spielen Holzbläser und Violinen ein fatalistisch klingendes Motiv, aus ihm entwickelt sich sogleich eine gezackte und doch irgendwie mürrisch anmutende Figur, bevor eine prägnante Endformel, gebildet aus einer Variante der Zelle X, diese Einleitung abrundet. Der zweite Satz «Un poco andante, marziale» gründet sich im Wesentlichen auf Motive des ersten, und die Zelle X wird beinahe zur Obsession. Nach dem «Allegro», das dämonische Mächte anruft, aber resignativ endet, leitet die kleine Trommel zum Andante über. Die Hörner intonieren einen stillen Trauermarsch. Der Grundrhythmus zerfasert allmählich, melancholische Meditationen treten in den Vordergrund, die Klangaura des Kopfsatzes in Erinnerung und vermehrt das Blech zu Hilfe rufend. Am Ende steht, vorwiegend von Streichern formuliert, die Ergebung ins Schicksal. Das ohne Pause anschliessende Finale «Allegro vivace – non troppo» bringt die überraschende Wende. Neue Motive bringt es nicht. Der optimistische, bisweilen übermütige Tonfall wird getragen von hoher orchestraler Virtuosität. Es ist eines der wenigen Stücke des Wahl-Franzosen Enescu, durch die der «Esprit de Paris» zu wehen scheint, wie ihn selbst Jacques Ibert nicht schöner einzufangen verstand. – Volker Tarnow

Biografien

Peter Ruzicka

Peter Ruzicka (*1948) erhielt seine instrumentale und theoretische Ausbildung am Hamburger Konservatorium (Klavier, Oboe, Kompositionstheorie), gefolgt von Kompositionsstudien bei Hans Werner Henze und Hans Otte. Er studierte Rechts- und Musikwissenschaften in München, Hamburg und Berlin. Seine Werke wurden von führenden Orchestern und Ensembles, wie den Berliner Philharmonikern, den Wiener Philharmonikern sowie allen deutschen Rundfunksinfonieorchestern aufgeführt. Seine Oper «CELAN» erlebte 2001 ihre Uraufführung an der Staatsoper Dresden. Ruzickas Musiktheater «HÖLDERLIN» wurde 2008 an der Staatsoper Unter den Linden Berlin uraufgeführt. Die Uraufführung seiner Oper «BENJAMIN» fand 2018 an der Hamburgischen Staatsoper statt. Von 1979 bis 1987 wirkte Peter Ruzicka als Intendant des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin, von 1988 bis 1997 als Intendant der Staatsoper Hamburg und der Hamburger Philharmoniker. 1996 übernahm er als Nachfolger Hans Werner Henzes die künstlerische Leitung der Münchener Biennale, die er bis 2014 innehatte. Von 2001 bis 2006 übernahm Ruzicka als Intendant die künstlerische Leitung der Salzburger Festspiele. Als Dirigent leitete Peter Ruzicka u.a. auch das RSO Wien, die Camerata Salzburg, das Gulbenkian Orchester Lissabon, das Orchestre symphonique de Montréal und das Shanghai Symphony Orchestra.

Nils Mönkemeyer

Nils Mönkemeyer (*1978) profiliert sich als einer der international erfolgreichsten Bratschisten mit künstlerischer Brillanz und innovativer Programmgestaltung und verhilft so der Bratsche zu enormer Aufmerksamkeit. In seinen Programmen spannt Mönkemeyer den Bogen von Entdeckungen und Ersteinspielungen von Bratschenliteratur des 18. Jahrhunderts bis hin zur Moderne und zu eigenen Bearbeitungen. Unter seinen jüngeren Einspielungen sind Werke von von William Walton, Max Bruch und Arvo Pärt mit den Bamberger Symphonikern unter der Leitung von Markus Poschner. Mönkemeyer ist Professor an der Hochschule für Musik und Theater München, an der er selbst bei Hariolf Schlichtig studiert hat.

Zürcher Sing-Akademie

Die Zürcher Sing-Akademie hat sich als symphonischer Chor und A-cappella-Ensemble durch ihre musikalische und künstlerische Flexibilität sowie durch ihre inspirierenden Auftritte längst ihren Platz unter Europas professionellen Chören erarbeitet. Seit seiner Gründung im Jahre 2011 kann das Schweizer Ensemble auf die Zusammenarbeit mit zahlreichen internationalen Spitzendirigenten zurückblicken. Mit der Vergabe von Kompositionsaufträgen und Uraufführungen leistet es einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Chorlandschaft. Seit der Saison 2017/18 ist Florian Helgath Chefdirigent und künstlerischer Leiter der Zürcher Sing-Akademie.

Florian Helgath

Florian Helgath (*1978) hat sich in kurzer Zeit als einer der führenden Chordirigenten der jüngeren Generation etabliert. Seit 2011 ist er Künstlerischer Leiter von Chorwerk Ruhr und seit 2017 der Zürcher Sing-Akademie. Mit diesen Ensembles erarbeitet er Chormusik aller Epochen, sowohl a cappella als auch im chorsinfonischen Bereich.
Von 2009 bis 2015 leitete Florian Helgath den Dänischen Rundfunkchor und war von 2008 bis 2016 Dirigent des Via Nova Chors München. Er hat zahlreiche Uraufführungen dieses Ensembles dirigiert und wurde mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet. Helgath folgte im Oktober 2020 einem Ruf zum Professor an die Hochschule für Musik und Tanz in Köln und unterrichtet dort das Fach Chordirigieren.

Chorbesetzung

Sopran

Hannah Beutler, Alice Borciani, Tabea Bürki, Keiko Enomoto, Alina Godunov, Hannah Mehler, Andrea Oberparleiter, Florence Renaut, Marie Rihane, Ulla Westvik

Alt

Renate Berger, Lucija Ercegovac, Elisabeth Irvine, Lara Morger, Isabel Pfefferkorn, Cassandre Stornetta, Jane Tiik, Lisa Weiss, Sarah Widmer, Anne-Kristin Zschunke

Dezember 2022
Fr 02. Dez
19.30 Uhr

SONIC MATTER – Carte blanche

Tonhalle-Orchester Zürich, Peter Ruzicka Leitung, Nils Mönkemeyer Viola, Damen der Zürcher Sing-Akademie Chor, Florian Helgath Einstudierung Ruzicka, Enescu
veröffentlicht: 29.11.2022

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