
«Da rennt einer um sein Leben»
Schostakowitschs Werke sind derzeit wieder hoch aktuell. Auch für Paavo Järvi, der ein ganz besonderes Verhältnis zu dieser Musik hat.
Paavo, du dirigierst derzeit viel Schostakowitsch: zwei Sinfonien in der vergangenen Saison, zwei in dieser. Warum?
Einerseits ist er einer der grossen Sinfoniker des 20. Jahrhunderts, seine Werke sind zentral für ein Orchester wie unseres. Andererseits ist mir diese Musik sehr nahe, sie spricht zu mir. Ich bin als Este in der ehemaligen Sowjetunion aufgewachsen, ich weiss, worum es geht in diesen Sinfonien.
Worum nämlich? Lässt sich das ausformulieren?
Schostakowitschs Musik ist nie absolute Musik, sie erzählt etwas. Aber was sie erzählt, das ist so finster und gefährlich, dass man es nicht in Worten sagen kann, nur in Tönen. Wir wissen natürlich, welches die Realität war, die er in seinen Werken beschrieb. Aber die wenigsten von uns haben das alles selbst erlebt – den stalinistischen Terror, die Massen-Deportationen, die Erschiessungen, die Folter, die Vergewaltigungen. Fast noch schlimmer war die Unterdrückung des Individuums und der Menschlichkeit. Der ganze psychische Druck, die ständige Furcht, etwas Falsches zu sagen und in Ungnade zu fallen.
Es genügte schon, etwas Falsches zu denken: Schostakowitsch musste zum Beispiel Zusammenfassungen seiner Lektüren abliefern.
Es herrschte die totale Kontrolle. Sie kontrollierten nicht nur, welche Bücher jemand besass, sondern auch, wie er sie verstand. Ein Orwellscher Albtraum.
Merkt man es den Aufführungen an, welche Dirigenten Schostakowitschs Erfahrungen teilen?
Ja. Mrawinski, Roshdestwenski, Svetlanov, auch mein Vater Neeme Järvi – ihre Interpretationen zeugen von einem tiefen, intuitiven Verständnis seiner Musik. Umgekehrt merkt man auch, wenn Dirigenten diese Werke zwar nach bestem Wissen und Gewissen interpretieren, aber ganz offensichtlich keine Ahnung haben. Es ist wie mit dem Glauben: Es ist ein Unterschied, ob man damit aufwächst oder sich mit 50 Jahren dafür entscheidet. Das eine ist zutiefst ehrlich, das andere eine intellektuelle Entscheidung. Wobei es Ausnahmen gibt: Leonard Bernstein etwa hat diese Werke verstanden, obwohl er aus einer ganz anderen Welt kam – ich weiss nicht, wie er das gemacht hat.
Du hast Schostakowitsch als Kind kennen gelernt. Wie war er?
Es war nur eine kurze Begegnung, er kam 1973 in unser Sommerhaus in Pärnu, wo wir heute das Festival haben. Er war schon krank damals, einseitig gelähmt und sehr still, er sagte nicht viel. Ich erinnere mich an seine dicken Brillengläser. Er sah genauso aus wie auf den Fotos, die man von ihm kennt. Ich war erst 13 Jahre alt und verstand nicht, was dieser Moment bedeutet.
Stalin war damals schon seit zwanzig Jahren tot, Schostakowitsch war rehabilitiert und geschätzt.
Er galt als der Grösste. Aber er wusste trotzdem: Eine falsche Bewegung, und ich bin weg. Das System ging geschickt um mit der kulturellen Elite, die Leute lebten gut, erhielten Aufträge. Aber sie konnten auch nach Stalins Tod jederzeit alles verlieren. So hat man sie alle eingesperrt, auf die eine oder andere Weise: Wer überleben wollte, durfte nichts sagen. Und wer etwas sagte, riskierte seine Freiheit oder sogar sein Leben. Das ist heute nicht anders. Kürzlich trat der Pianist und Friedensaktivist Pavel Kushnir in einem russischen Gefängnis in den Hungerstreik. Sie liessen ihn sterben.
Erinnerst du dich, wann dich Schostakowitschs Musik zum ersten Mal wirklich berührt hat?
Ich habe seine Musik schon als Kind oft gehört, zu Hause auf Schallplatten, oder wenn mein Vater sie dirigiert hat. Ich fand sie aufregend, mitreissend – den Subtext habe ich erst später verstanden. Etwa im Anfang der Sinfonie Nr. 10, die wir demnächst aufführen. Dieser Anfang wirkt, wie wenn man in einem Keller aufwacht, es erinnert ein bisschen an Beethovens «Fidelio», an dieses Gefühl: wo bin ich, es ist so dunkel hier! Aber es ist nicht nur eine reale Dunkelheit, alles ist deprimierend und finster. Und dann ist da doch irgendwo eine Stimme der Hoffnung, eine Erinnerung an etwas. Das Stück beginnt wie ein psychologischer Thriller, es packt einen unmittelbar.
Diese Sinfonie entstand 1953 kurz nach Stalins Tod. Aber man hört keine Erleichterung darin.
Es ist ja nicht so, dass sich nach Stalins Tod alles über Nacht geändert hatte. Meine Mutter erzählte jeweils, wie alle weinten damals. Sie dachten, die Welt gehe unter. Stalin war der Retter gewesen, der grosse Vater des sowjetischen Volkes, der sich um alles kümmerte. Man wusste, dass er alles kann, er wäre auch Ingenieur oder Arzt gewesen, wenn er die Zeit dafür gehabt hätte. Es war ein absurder Personenkult – kein Wunder, war die Religion so verpönt damals! Sie wollten keinen anderen Gott, sie hatten Stalin. Wenn man in einer solchen Gesellschaft aufwächst, in ständiger Furcht und ohne Informationen von aussen, beginnt man zu glauben, was einem erzählt wird. Es war eine regelrechte Gehirnwäsche.
Was bedeutet das für dich als Dirigent? Gehst du Schostakowitschs Werke anders an als andere?
Ich tue nichts Spezielles. Natürlich habe ich meine Sicht auf die Musik, und natürlich hat die viel mit meinen persönlichen Erfahrungen in der Sowjetunion zu tun. Aber es braucht für Schostakowitschs Sinfonien dasselbe wie bei allen anderen: Erfahrung. Man muss sie viele Male aufführen, viele Dinge ausprobieren. Früher bemühte ich mich vor allem um klare Strukturen. Heute suche ich etwas Roheres, Raueres. Etwas, bei dem die emotionale Seite einer Geste wichtiger ist als die Technik. Die strukturelle Klarheit bleibt wichtig, aber sie reicht nicht aus.
Wie vermittelst du diese Sicht einem Orchester, das deine Erfahrungen nicht gemacht hat?
Wir haben in der letzten Saison Schostakowitschs Sinfonie Nr. 5 aufgeführt, und die Musikerinnen und Musiker haben diese Musik wirklich gefühlt. Das ist nicht selbstverständlich, sie alle sind ausgebildet, um schön zu spielen. Es braucht einen gewissen Mut, um in diesen Werken mehr auf den Charakter zu setzen als auf die Schönheit.
Hat es mit dem aktuellen Krieg zu tun, dass das Verständnis für diese Musik grösser ist als früher?
Ja, vielleicht. Es fällt mir immer wieder auf, dass das Publikum – und insbesondere auch das jüngere Publikum – sehr stark reagiert auf Schostakowitschs Werke. Tatsächlich ist seine Musik ungemein zeitgemäss heute. Alles, worüber er geschrieben hat, kommt wieder zurück. Die totale Kontrolle, die Manipulation der Massen, die Missachtung der Menschenrechte, die Aggression: Alle diese Dinge, für die Stalin bekannt war, sind wieder da, in einer Weise, mit der wir nie gerechnet hätten. Wir dachten, dass wir nie mehr Panzer sehen würden, die über Grenzen hinwegfahren.
Wie wird Schostakowitsch heute in Russland gesehen? Gilt seine Musik immer noch als gefährlich?
Nein, er wird als grosser patriotischer Komponist verehrt. Er ist tot, er kann nichts mehr klarstellen, sie kontrollieren sein Image und seinen Mythos. Natürlich kennen auch die russischen Musiker den Subtext seiner Werke. Aber sie sprechen nicht darüber.
Auch Schostakowitsch selbst sagte nie alles. Oder handelt seine sechste Sinfonie, die kürzlich auf dem Programm stand, tatsächlich von «Frühling, Freude, Jugend», wie er behauptete?
Wann immer Schostakowitsch etwas über seine eigenen Werke sagte, war es höchstens Camouflage. Er sprach nie wirklich über seine Musik, mit guten Gründen. Seine vierte Sinfonie musste er auf Druck von oben zurückziehen; es ist ein dunkles Werk, eines seiner besten. Dann die fünfte – die war nicht gerade eine Entschuldigung, aber doch ein Angebot, ein Einlenken. Er wagte nichts mehr zu schreiben, was offensichtlich negativ war. Aber er täuschte die Zensoren, indem er die Dinge auf sehr clevere Weise umkehrte. Auch in der Sechsten: Alle Tiefe dieses Werks steckt im Anfang, im ungewöhnlich langen langsamen Satz. Das Scherzo danach ist eher die Parodie eines Scherzos. Und dann kommt der letzte Satz, der ungemein mitreissend wirkt. Man kann ihn tatsächlich gut als triumphal oder jugendlich verstehen, aber das ist er nicht. Es geht um etwas anderes: Da rennt einer um sein Leben, um nicht erschossen zu werden.
Schostakowitsch war gut im Verstecken und Erzählen gleichzeitig.
Ja. Es gibt in seinen Werken viele Anspielungen – die berühmteste ist die Tonfolge D-Es-C-H, mit der er in fast allen Werken seine Initialen verbarg. Auch private Gefühle hat er chiffriert, in der Zehnten etwa gibt es ein verzweifeltes Hornmotiv, in dem er den Namen einer Schülerin verewigte, in die er hoffnungslos verliebt war. Vor allem aber hat er viele politische Botschaften versteckt; es gibt in vielen seiner Werke kurze Motive, die auf Volkslieder, Filmmusiken oder sowjetische Militärlieder verweisen und damit auf ganz bestimmte Inhalte oder Textfragmente. Es sind nur ganz kleine Andeutungen, melodische Zellen; einem heutigen Publikum fallen sie gar nicht auf. Aber die Leute, die damals in der Sowjetunion lebten, erkannten sie sofort.
Muss man diese Hinweise verstehen, wenn man diese Musik hört?
Nein. Eine Musik, die nur überlebt, wenn man den Kontext versteht, ist nicht stark genug. Man kann sich zu diesen Sinfonien seine eigenen Geschichten denken, die nichts mit dem sowjetischen Hintergrund zu tun haben müssen. Sie sind so gut geschrieben, dass sie einen auch dann berühren, wenn man nichts über sie weiss.